Mercedes: Zwischen Luxus‑Illusion und systemischer Realität
Strategische Markt‑ und Positionierungsanalyse der Mercedes‑Benz Group
Autor: Prof. Dr. Christoph Ph. Schließmann
Executive Summary
Mercedes‑Benz verliert 2024/25 deutlich an Marktanteilen, Margen und Markenvertrauen. Kernursache ist eine Fehlpositionierung im Strategisch Relevanten Markt (SRM): Die Luxus‑ und „Electric Only“-Agenda von CEO Ola Källenius adressiert weder die originären Kundenbedürfnisse noch die realen Wettbewerbstreiber in den Premium‑EV‑ und Verbrennerrestmärkten. Diese Analyse konzentriert sich ausschließlich auf Marktdynamik und Strategie, um die Lebensfähigkeit des Geschäftsmodells neu zu bewerten und einen präzisen Handlungspfad abzuleiten.
Strategieanalyse Mercedes-Benz: Die Fehlstrategie unter Ola Källenius
1. Unternehmensprofil: Zwischen Prestige und Identitätsverlust
Mercedes-Benz, ursprünglich Synonym für deutsche Ingenieurskunst, Premiumqualität und technische Innovation, definierte sich über Jahrzehnte durch seine leistungsstarken Verbrenner, ikonische Modelle wie die S-Klasse und ein solides Gleichgewicht zwischen Luxus und Massentauglichkeit. Unter CEO Ola Källenius wurde ein radikaler Umbau eingeleitet: Der Konzern sollte sich in einen reinen Elektro- und Luxusfahrzeughersteller transformieren – unter dem Leitbild „Electric Only“ und der Strategie „Economics of Desire“.
Problem: Die Transformation vernachlässigte systemische Grundlagen der Lebensfähigkeit: Kundenbedürfnisse, technologische Reife, Marktbereitschaft und Unternehmens-DNA wurden überschrieben zugunsten visionärer, jedoch marktferner Leitmotive.
Marktumfeld & Wettbewerbsdynamik
Premium‑EV‑Segment 2025
- Wachstum global +21 %, aber Preisdruck (Ø ASP ‑7 %).
- BMW „Neue Klasse“ +15 % EV‑Absatz, Porsche Taycan +9 %; Mercedes EQ‑Familie ‑19 %.
- Kundenprioritäten (Uscale 2025): Reichweite, Ladezeit, Preis‑Wert‑Verhältnis – Luxusfeatures < 10 % Relevanz.
Verbrenner & Hybrid Restmärkte
- ICE+PHEV machen 80 % des weltweiten Luxus‑Segments aus; EU‑Regulatory Tail zeigt längeren Hybrid‑Run‑way (Euro 7, e‑Fuels‑Ausnahme).
- Mercedes streicht A‑/B‑Klasse und verengt damit Volumenanker; BMW und Audi bringen neue Einstiegsbaureihen.
Wettbewerbsstruktur
Hersteller | EV‑Quote | USP | Preisstrategie | Resultat 2025 H1 |
---|---|---|---|---|
BMW | 18,3 % | Effizienz, 800 V | „Premium‑Value“ | Absatz +12 % |
Tesla | 100 % | Software, OTA | Skimming | Absatz +8 % |
Porsche | 23,4 % | Performance‑Luxus | High‑Price | Absatz +9 % |
Mercedes | 8,4 % | Heritage‑Luxus? | High‑Price EV | Absatz ‑19 % |
Befund: Luxus alleine differenziert nicht – Effizienz, Ladeleistung und wahrgenommener Gegenwert entscheiden.
2. SRM & Positionierung: Der Irrtum des Marktes
Anstatt den Strategisch Relevanten Markt (SRM) über die originären Kundenbedürfnisse (OKB) zu definieren, verengte Källenius die Marktdefinition auf „Luxus + E-Mobilität“, in der Hoffnung auf margenträchtige Exklusivkunden.
Kritik:
- Der OKB-Fehler: Kunden wollten keine futuristische E-S-Klasse ohne Stern, sondern vertraute Qualität mit modernem Antrieb.
- Der SRM wurde falsch interpretiert: E-Mobilität ist kein originäres Kundenbedürfnis, sondern Mittel zum Zweck (z. B. nachhaltige, aber bezahlbare Mobilität).
- Der SRM der „Leistungsstarken, nachhaltigen Premium-Mobilität“ wurde nicht besetzt – dort gewann BMW Marktanteile mit technischer Bodenständigkeit.
Folge: Mercedes befindet sich „zwischen den Stühlen“ – weder als authentischer Luxushersteller wie Ferrari noch als massentauglicher Premiumanbieter wie BMW.
2.1 Originäre Kundenbedürfnisse (OKB‑Panel, n = 1 200)
- Souveräne Alltagstauglichkeit (Reichweite ≥ 600 km, Lade < 20 min)
- Sicherheit & Technikvertrauen (ADAS‑Level 2+/3)
- Preis‑Wert‑Fairness (ΔPrämie vs. BMW ≤ 10 %)
- Marken‑Heritage (gleichbleibende Symbolik: Stern, Silhouette)
2.2 Fehlende Marktpassung
- „Electric Only × Luxusmarge“ verengt SRM auf < 15 % der Premium‑Nachfrage.
- EQ‑Design bricht mit Marken‑Heritage (Drop‑Shape, Stern‑Wegfall) → Identitätsbruch.
- Preisaufschläge +25 % ggü. S‑Klasse‑ICE bei niedriger Ladeperformance ⇒ Wertlücke.
Konsequenz: Mercedes positioniert sich weder als authentischer Luxushersteller (Ferrari) noch als verlässlicher Premium‑Alltagsbegleiter (BMW).
3. Wettbewerb & SWOT-Analyse
Stärken:
- Technologische Innovationskraft (MB.OS, autonomes Fahren).
- Finanzielle Solidität, hoher Cashflow, gute Liquiditätsbasis.
- Historisches Markenimage.
Schwächen:
- Fragmentierte Modellpolitik.
- Schlechte E-Mobilitätsquote (8,4 %) bei gleichzeitigem Auslauf traditioneller Erfolgsbaureihen.
- Hohe Rückrufquote, mangelnde Ladeleistung, Vertrauensverlust bei Kunden.
Chancen:
- Liquidität und Bewertung bieten Spielraum für Neuausrichtung.
- CLA als Make-or-Break-Modell kann strategischer Korrekturfaktor sein.
Risiken:
- Rückzug vom US-E-Markt nach Ende der Förderung.
- Luxussteuer in China verschärft Absatzdynamik.
- Wachsende Macht ausländischer Aktionäre durch Rückkaufprogramme.
4. Schließmann-Würfelanalyse: Lebensfähigkeit im Krisenmodus
Relative Marktposition: Schwächelnd. Mercedes verliert Marktanteile bei Volumen- und Topmodellen. Position BB → BC.
Rentabilität im SRM: Erodierend. Margenziel (14 %) deutlich verfehlt, EBIT-Marge im Sinkflug. Umsatzrendite von 12,6 % auf 5,1 % gefallen.
Viabilität im System (Schließmann-Formel):
- Komplexität: Hoch, durch disruptive Strategieänderungen, schlechte Kommunikation, technologische Umbrüche.
- Agilität: Gering – verspätete Reaktionen auf Marktfeedback (z. B. Wiedereinführung Stern, Rückkehr zu Verbrenneranteilen).
- Robustheit: Gemäßigt – hohe Liquidität, aber schrumpfende Absatzbasis und schwindendes Händlervertrauen.
→ Diagnose: Latent fragile Organisation mit hoher Entropie. Akute Nähe zum kritischen Komplexitätskorridor.
Achse | Kennzahl 2024/25 | Bewertung |
Marktposition | Top‑Segment ‑14 %, Einstiegssegmente entfällt | ↓ (BB → BC) |
Rentabilität | EBIT‑Marge 6,2 % (Ziel 14 %) | ↓ |
Viabilität | Komplexitätsindex 36,7 % (Ziel < 30 %) | Fragil |
Diagnose: Feld BC – schwache Marktposition, sinkende Rendite, fragile Lebensfähigkeit.
5. Kernkompetenzen: Verkannt und untergenutzt
Die Kernkompetenz von Mercedes liegt nicht in „Luxus“, sondern in der exzellenten Synthese aus Technik, Sicherheit, Ingenieurskunst und Markenempathie. Dieses Meta-Narrativ wurde durch futuristisch-elitäre E-Strategien und das Marketing der „Desire-Ökonomie“ überdeckt.
Fehler: Technologische Führerschaft wurde nicht als Kundenwert positioniert, sondern als Selbstzweck stilisiert. Statt technologiegetriebener Vertrauensbildung folgte ein imageschädlicher Innovationsaktionismus.
6. Komplexitäts- und Systemversagen
- OntoSpace & Vester-Matrix-Simulation übertragen:
- Systemparameter wie Vertrauen, Modellklarheit, Händlerbindung, Kundenrückkopplung wurden falsch gewichtet oder nicht systemisch vernetzt.
- Rückkaufprogramme führten zu Machtverschiebungen und einem Entkopplungseffekt zwischen Unternehmen und systemischer Verantwortung.
- Systemische Risiken:
- Verkennung des systemischen Zusammenspiels aus Modellpolitik, Preiswahrnehmung und Kundenbindung.
- Verlust der Selbstorganisation und Anpassungsfähigkeit durch falsche Zielsetzung: Luxus als Endzweck statt kundengetriebene Differenzierung.
7. Handlungsempfehlungen: Strategische Korrekturen
- Neudefinition des SRM: „Individuell differenzierbare, nachhaltige Mobilität mit Premium-Komfort“.
- Kernkompetenz-Rekalibrierung: Zurück zur Ingenieur-getriebenen Vertrauensmarke. Fokussierung auf Qualität, Sicherheit, Effizienz – nicht auf abstrakte „Desire“-Motive.
- Modellportfoliostrategie: Modularisierte Plattformen, differenzierte Preisarchitektur, klar definierte Einstiegspunkte ohne Imagebruch.
- Systemisch-integrative Strategieentwicklung: Anwendung des Vester-Komplexitätsmodells und OntoSpace-Mappings zur Identifikation kritischer Steuerparameter und Rückkoppelungen.
- Interne Komplexitätsreduzierung: Weniger Aktionismus in Strategie, mehr iteratives Scanning mit Feedback-Integration.
- Stakeholder-Reintegration: Händler, Kunden, Technikpartner als aktive Mitgestalter.
8. Fazit & Ausblick: Der strategische Wendepunkt
Mercedes befindet sich an einem strategischen Inflection Point. Der Versuch, Tesla zu kopieren und sich gleichzeitig als Luxuslabel neu zu erfinden, führte in ein Vakuum zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Der Konzern braucht jetzt keine Durchhalteparolen mehr, sondern den Mut zur strategischen Selbstkorrektur. Ein Geschäftsmodell ist kein Glaube – es ist die operative Strukturierung eines Kundenversprechens.
Strategisches Leitbild:
„Mercedes-Benz – die technologische Souveränität nachhaltiger Mobilität für Menschen, die Komfort, Verantwortung und Vertrauen verbinden wollen.“