Die Zukunft des juristischen Berufs: Vom Subsumtions-Handwerk zur strategischen Wertschöpfung in der Ära der Künstlichen Intelligenz
- Einleitung: Das Ende eines Paradigmas und der Beginn einer Transformation
1.1 Die Thesen des Wandels
Die juristische Profession steht an der Schwelle einer fundamentalen Transformation, die das traditionelle Selbstverständnis und die ökonomische Grundlage des Berufsstandes infrage stellt.
Ein Thesenpapier von Prof. Dr. Christoph Ph. Schließmann, das als Grundlage für diese Analyse dient, formuliert eine provokante These: Die klassische juristische Ausbildung, die darauf abzielt, Gesetz und Rechtsprechung in ihrem System und Inhalt zu beherrschen und im Wege der Subsumtion auf konkrete Sachverhalte anzuwenden, wird durch die rasanten Fortschritte der Künstlichen Intelligenz (KI) entwertet.¹ Dieser Ansatz, der die juristische Methodik seit Jahrhunderten prägt, wird nach dieser Einschätzung künftig von KI-Systemen „weit besser, schneller und jederzeit verfügbar“ beherrscht werden.¹
Der Kern der Argumententation ist, dass die Wertschöpfung des Juristen sich von der reinen Rechtskenntnis und deren Anwendung auf Sachverhalte lösen muss.
Stattdessen braucht es neue, unersetzliche Kernkompetenzen: das kreative, kritische und erfahrungsbasierte Hinterfragen von Sachverhalten; die strategische Orchestrierung von rechtlichen Lösungen im Zusammenspiel mit benachbarten Disziplinen wie Wirtschaft, Technologie und Psychologie; und die Fähigkeit, komplexe, überfachliche Sachverhalte zu lösen.¹ Die bloße Subsumtion wird demzufolge von einem lukrativen Kerngeschäft zu einer unentgeltlichen, impliziten „Nebenleistung“ degradiert.¹
1.2 Das historische Fundament der Subsumtion: Die Rolle der klassischen juristischen Ausbildung
Um die Tragweite dieser These zu verstehen muss die historische Rolle der Subsumtion beleuchtet werden.
Seit den Anfängen der modernen Rechtswissenschaft ist die Subsumtion das methodische Korsett, das der juristischen Argumentation Struktur, Klarheit und Reproduzierbarkeit verleiht.
Sie stellt sicher, dass rechtliche Entscheidungen nicht willkürlich, sondern basierend auf einer logischen Anwendung von Rechtssätzen auf konkrete Fakten getroffen werden.
Dieses Denkmuster wurde zum Herzstück der juristischen Ausbildung und prägte Generationen von Juristen.Dieser Ansatz hat nicht nur die Denkweise, sondern auch die wirtschaftliche Struktur der Rechtsdienstleistungen geformt.
Das traditionelle Vergütungsmodell, insbesondere die Abrechnung nach Zeitaufwand (sogenannte „billable hours“), basiert implizit auf der Vorstellung, dass die Erarbeitung und Anwendung des Rechts eine zeitaufwändige, intellektuelle Tätigkeit ist.
Die Subsumtion von Tatsachen unter Normen war in diesem Paradigma der primäre Prozess, für den Mandanten bereit waren zu zahlen.
Die nun aufkommende KI-Technologie stellt die Legitimität dieses Geschäftsmodells radikal infrage.¹
Analysieren wir die technologische Disruption durch KI sowie die Entwertung der kausalen Kette der ökonomischen Entwertung traditioneller juristischer Dienstleistungen und beleuchten das neue Anforderungsprofil des Juristen, indem neuen Kernkompetenzen – das kreative Hinterfragen, die strategische Orchestrierung und die unersetzliche Rolle von Empathie und Erfahrung – vertieft werden.¹ Dabei gilt ein besonderer Blick auf die juristische Ausbildung und deren Defizite, die verhindern, dass die meisten Juristen auf diese neue Ära vorbereitet sind.¹ Daher gilt es konkrete Empfehlungen für eine Reform der juristischen Praxis und Lehre zu formulieren, um den Weg für eine zukunftsfähige Profession zu ebnen.
2. Die Dematerialisierung des Rechtswissens: Wie KI die juristische Wertschöpfung neu definiert
2.1 KI als disruptiver Akteur: Analyse der technologischen Fähigkeiten im Kontext der Rechtsprechung
Die disruptive Kraft der Künstlichen Intelligenz im Rechtswesen liegt in ihrer Fähigkeit, zwei fundamentale Elemente der traditionellen juristischen Arbeit zu automatisieren: die Analyse riesiger Datenmengen und die präzise Anwendung von Regeln.² Hochentwickelte KI-Modelle können in Sekundenbruchteilen Millionen von Seiten juristischer Texte – Gesetze, Kommentare, Rechtsprechung und Verträge – durchsuchen, Muster erkennen und relevante Informationen extrahieren.² Noch entscheidender ist, dass sie in der Lage sind, das Kernstück der juristischen Methodik, die Subsumtion, mit einer Geschwindigkeit und Genauigkeit zu beherrschen, die menschliche Kapazitäten weit übertrifft.¹ Dies bestätigt die zentrale These, dass KI in der Lage sein wird, die Subsumtion „weit besser, schneller und jederzeit verfügbar“ zu leisten.¹ Benchmark-AI-Tools zeigen, dass große Sprachmodelle (LLMs) in klar definierten Aufgabenfeldern wie Informationsabruf, Norm-Matching und formalen Ableitungen bereits robuste Leistungen erbringen.²
Die Automatisierung dieser Kernkompetenz löst eine kausale Kette der ökonomischen Disruption aus.
Da der Zeitaufwand für die klassische Subsumtion drastisch sinkt,³ verliert das traditionelle Vergütungsmodell der Abrechnung nach Zeit seine Legitimation.¹ Juristische Dienstleistungen, die ausschließlich auf der Anwendung des Rechts auf gegebene Sachverhalte basieren, können nicht länger als eine Hauptleistung in Rechnung gestellt werden.
Vielmehr wandeln sie sich, wie das Dokument es formuliert, zu einer impliziten, nicht mehr explizit abrechenbaren „Nebenleistung“.¹ Dies bedeutet, dass Juristen neue Geschäftsmodelle entwickeln müssen, die den Wert ihrer Expertise anders bemessen – nicht nach der investierten Arbeitszeit, sondern nach dem strategischen Ergebnis und dem Wert, den sie für den Mandanten schaffen.¹
2.2 Automatisierung der Routine: Verschiebung der Grenzen
Die Auswirkungen der KI sind bereits in zahlreichen Anwendungsbereichen der juristischen Praxis spürbar.³ Beispiele hierfür sind die automatisierte Vertragsprüfung, bei der KI-Systeme tausende von Seiten in Minuten durchforsten können, um Risikoklauseln oder Abweichungen von Standardmustern zu identifizieren.⁴ Ebenso wird die Due-Diligence-Prüfung bei M&A-Transaktionen durch KI-gestützte Tools beschleunigt und effizienter gestaltet.⁵ Auch die Recherche von Präzedenzfällen, die bisher einen enormen Zeitaufwand erforderte, wird durch KI dramatisch verkürzt.² Standardisierte Schriftsätze oder Dokumente können heute in weiten Teilen automatisiert erstellt werden, was die traditionelle Arbeit von Berufseinsteigern überflüssig macht.⁴ Die Geschwindigkeit und die weitgehend mangelfreie Genauigkeit, mit der KI diese Aufgaben bewältigt, verschiebt die Grenze dessen, was als wertvolle, menschlich erbrachte Dienstleistung gilt.
2.3 Ökonomische Implikationen: Analyse des Drucks auf traditionelle Vergütungsmodelle
Die Verlagerung von der Abrechnung nach Zeit hin zu einem wertbasierten Vergütungsmodell (vom „billable hour“ zum „value-based pricing“) ist die unmittelbare Konsequenz der technologischen Disruption.¹ Wenn die grundlegenden, zeitintensiven Aufgaben durch KI automatisiert werden, wird es für Kanzleien unhaltbar, diese Zeit weiterhin in Rechnung zu stellen.¹ Die logische Folge ist, dass sich die strategische Ausrichtung der Kanzleien von „Produkt-Anbietern“ (z. B. „eine Klage einreichen“) zu „Lösungs-Partnern“ wandeln muss.¹ Der Verlust der Subsumtion als Haupteinnahmequelle zwingt Kanzleien dazu, ihre Wertschöpfungskette neu zu überdenken.
Dies führt nicht nur zu Effizienzgewinnen in den bestehenden Prozessen, sondern zur Notwendigkeit, völlig neue Dienstleistungsangebote zu schaffen, die von KI nicht replizierbar sind und die den Juristen als strategischen Berater positionieren.¹
Das neue juristische Paradigma lässt sich in der folgenden Tabelle veranschaulichen, die die fundamentalen Unterschiede zwischen dem traditionellen und dem zukunftsorientierten Berufsbild aufzeigt.
Das alte juristische Paradigma Das neue juristische Paradigma
Kernkompetenz Beherrschen der Subsumtion, exakte Rechtskenntnis. Kreative Problemlösung, interdisziplinäre Analyse, strategisches Denken.¹
Wertschöpfung Generierung von Lösungen durch Rechtsanwendung; Abrechnung nach Zeitaufwand („billable hour“). Wertschöpfung durch ganzheitliche Lösungsarchitektur; Abrechnung nach Wert oder Ergebnis.¹
Rolle im Mandantenverhältnis Reagierender „Wissensvermittler“ und „Fallbearbeiter“. Proaktiver „Problemlöser“ und „strategischer Architekt“.¹
Einfluss von KI Die Rolle ist durch KI bedroht und wird in Teilen obsolet. Die Rolle wird durch KI gestärkt; KI wird als Werkzeug für Routineaufgaben genutzt, um Zeit für strategische Aufgaben zu gewinnen.
3. Das neue Spielfeld des Juristen: Kreativität, Strategie und interdisziplinäre Expertise
3.1 Die Kunst des Hinterfragens: Vertiefung des Konzepts der kreativen Sachverhaltsanalyse
Eines der zentralen Argumente für die Relevanz des Juristen in der Ära der KI ist die Fähigkeit, „Sachverhalte kreativ, kritisch und vor allem mit viel Erfahrung zu hinterfragen, zu erforschen und vor allem hinter die oft mangelhaften Fakten zu schauen“.¹ Das menschliche Urteilsvermögen ist unersetzlich, wenn es darum geht, zwischen den „scheinbaren Sachverhalten“ und der „wahren Realität“ zu unterscheiden.¹ Oftmals geben Mandanten nur die oberflächlichen, subjektiven oder rechtlich „gesäuberten“ Fakten wieder, die mit der zugrunde liegenden Ursache des Problems nicht übereinstimmen.
Die Fähigkeit, diese Diskrepanz zu erkennen, erfordert mehr als eine bloße logische Analyse.Es ist eine zutiefst psychologische Aufgabe, die es dem Juristen ermöglicht, die Motivationen, Ängste und unbewussten Aspekte der Mandantenwahrheit zu erkennen.¹ Der Jurist, der den wahren Sachverhalt erkennt, kann nicht nur die richtige Rechtsnorm anwenden, sondern auch die eigentliche Ursache eines Konflikts identifizieren und eine strategische Lösung entwickeln, die über das rein Rechtliche hinausgeht.
Diese Fähigkeit markiert den Übergang vom reaktiven „Problem-Solver“ zum proaktiven „Problem-Finder.“
3.2 Der Anwalt als Architekt komplexer Lösungen: Strategische Orchestrierung
Die Zukunft des Juristen liegt in der „Orchestrierung von Recht im Zusammenhang mit entsprechend benachbarten und anderen Disziplinen wie Wirtschaft, Technologie, Psychologie etc.“.¹ Juristische Sachverhalte sind in der modernen Welt selten isoliert zu betrachten. Ein Fall von Vertragsrecht kann beispielsweise eng mit Fragen des Urheberrechts und den technischen Spezifikationen einer Softwareentwicklung verknüpft sein. Ein arbeitsrechtlicher Konflikt kann seine Ursache in psychologischen Dynamiken oder der Unternehmenskultur haben. Die im Briefing genannte „Erfahrung“ ist hier der Schlüssel.¹ Erfahrung ist nicht nur die bloße Ansammlung von Wissen, sondern die Fähigkeit, intuitiv Heuristiken/Muster über Fachgrenzen hinweg zu erkennen und Wissen aus unterschiedlichen Domänen zu einer kohärenten, strategischen Lösung zu synthetisieren.⁶
Diese „Architekten“-Rolle stellt den Juristen ins Zentrum der strategischen Beratung und macht ihn zu einem unersetzlichen Navigator in komplexen, überfachlichen Sachverhalten. Das übergeordnete Ziel ist die Entwicklung eines „Legal Architects,“ der die vielfältigen Anforderungen eines Projekts koordiniert.⁷ Diese Rolle erfordert die Balance zwischen den Interessen der Mandanten, der Technik, den Finanzen und der Einhaltung von Vorschriften.⁷ Er agiert als Vermittler, der juristische Komplexität in klare und einfache Lösungen übersetzt und dabei Empathie und strategisches Denken einsetzt.⁶
Das Kompetenzmodell „JURIST 2030“ sollte diese Fähigkeiten in acht Kernbereichen aufweisen:
- Sachverhalts-Forensik & Reframing: Systematische Infragestellung des Mandanten-Narrativs, um versteckte Motive und fehlende Fakten zu identifizieren.
- Options- und Szenario-Design: Entwicklung von mindestens drei handlungsfähigen Alternativen pro Zielbild, inklusive Payoff-Bandbreiten.
- Interdisziplinäre Orchestrierung: Verknüpfung von Recht mit Wirtschaft, Technologie, Psychologie und Compliance.
- Verhandlungsführung & Konfliktdesign: Gestaltung von Verhandlungen mit einem klaren Fokus auf den gewünschten Ausgang statt auf die Maximierung einzelner Klauseln.
- Regulatorische Systemsicherheit („Legal Safety by Design“): Einbau von Datenschutz, Berufsrecht und KI-Risikomanagement von Anfang an.
- Quantitativer-Unterbau: Grundverständnis für Daten, Unsicherheit und statistisches Denken.
- Produkt- und Service-Design: Rechtsberatung als modulares Produkt mit klaren Inputs, Outputs, SLAs und KPIs.
- KI-Kompetenz & Aufsicht: Zielgerichteter Einsatz von KI, Überprüfung der Evidenz, Vermeidung von Halluzinationen und Sicherstellung der menschlichen Endverantwortung.⁸
Schauen wir Kernbereich 7 einmal näher an:
Ein „Rechtsberatungsprodukt“ zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
• Klare Inputs: Der Prozess beginnt mit einer präzisen Bedarfsanalyse, um die Herausforderungen und Bedürfnisse der Zielkunden zu identifizieren. Statt eines vagen Problems liefert der Mandant klare, vorab definierte Informationen, die für die Bearbeitung des Falles notwendig sind. Dies schafft von Anfang an Transparenz und Effizienz.
• Definierte Outputs: Im Gegensatz zur traditionellen, oft unklaren Erwartungshaltung bei der Stundenabrechnung, legt ein Rechtsberatungsprodukt das Endergebnis klar fest. Der Kunde weiß genau, welche Leistung er für einen festen Preis erhält. Beispiele für solche Outputs sind: ein automatisierter Vertrag, der auf Basis der Kundeneingaben erstellt wird; ein umfassendes Paket für die Einhaltung von Compliance-Vorschriften, einschließlich Audits und Schulungen; ein Service für die Überprüfung von Verträgen, bei dem potenzielle Risiken und Abweichungen klar markiert und kommentiert werden; die Erstellung von abmahnsicheren Rechtstexten für eine Online-Präsenz.
• SLAs (Service Level Agreements): SLAs sind der vertragliche Rahmen, der die Qualität und Geschwindigkeit der erbrachten Dienstleistung garantiert. Sie sind kundenorientierte Dokumente, die die Erwartungen des Mandanten genau festlegen. Typische Bestandteile eines SLAs sind: Qualität der Leistung (eine genaue Beschreibung dessen, was der Dienstleister erbringen wird), Reaktionszeiten (klare Angaben, wie schnell der Anwalt auf Anfragen reagiert), Überwachung der Leistung (wie die Einhaltung der SLAs gemessen und verfolgt wird) und Strafen bei Nichteinhaltung (Regelungen für den Fall, dass die vereinbarten Standards nicht erreicht werden).
• KPIs (Key Performance Indicators): KPIs sind interne Messgrößen, die eine Kanzlei nutzt, um den Erfolg ihrer Dienstleistungsprodukte zu bewerten. Während SLAs die externe Verpflichtung darstellen, dienen KPIs dem internen Management zur Sicherstellung der Effizienz und zur kontinuierlichen Verbesserung des Angebots. Beispiele für relevante KPIs in der Rechtsberatung sind: Time-to-Insight (TtI), der Kundenzufriedenheitswert (CSAT), die Automatisierungsrate, die Konversionsrate und die Streitvermeidungsquote.
Vorteile des Ansatzes
Die Produktisierung der Rechtsberatung bietet sowohl für den Anwalt als auch für den Mandanten erhebliche Vorteile. Sie führt zu:
• Vorhersehbare Kosten: Mandanten kennen den Preis der Dienstleistung im Voraus, was die Kaufentscheidung vereinfacht.
• Erhöhte Effizienz: Standardisierte Prozesse ermöglichen es Anwälten, Routineaufgaben zu automatisieren und sich auf komplexe, strategische Tätigkeiten zu konzentrieren.
• Skalierbarkeit: Einmal entwickelte Produkte können einem größeren Kundenkreis angeboten werden, ohne dass die personellen Kapazitäten linear mitwachsen müssen.
• Neue Märkte: Dienstleistungsprodukte können die Hemmschwelle für Kunden senken, die sich traditionelle Rechtsberatung nicht leisten könnten.
Dieses Vorgehen ist eng mit dem Legal Design Thinking verbunden, einem menschenzentrierten Ansatz, der Juristen befähigt, Dienstleistungen zu entwickeln, die nutzerfreundlich, verständlich und zugänglich sind. Es geht darum, die Perspektive des Kunden einzunehmen und Lösungen zu entwerfen, die seine tatsächlichen Bedürfnisse erfüllen und die Rechtsberatung von einer undurchsichtigen zu einer transparenten, wertorientierten Dienstleistung machen.
3.3 Der Anwalt als Navigator in unsicheren Welten: Das Management von Unsicherheiten
Während KI-Systeme hervorragend darin sind, Muster aus historischen Daten und bekannten Regeln zu extrahieren und anzuwenden, stoßen sie an ihre Grenzen, wenn sie mit Unsicherheiten oder neuartigen Sachverhalten konfrontiert werden.⁸ Die Fähigkeit, mit Ambiguität, ethischen Dilemmata und gesellschaftlichen Unsicherheiten umzugehen, ist eine zutiefst menschliche Kompetenz. In rechtlichen Grenzbereichen, die sich durch neue Technologien (z. B. Genetik, Blockchain oder autonomes Fahren) ergeben, kann die KI keine vollumfängliche Beratung bieten, da die Rechtslage noch nicht gefestigt ist.² Hier ist der Jurist als vorausschauender und ethisch reflektierender Berater unabdingbar. Er muss nicht nur das geltende Recht anwenden, sondern auch die zukünftigen rechtlichen Entwicklungen antizipieren und seinen Mandanten als moralischer Kompass dienen.
3.4 Der Wert der Erfahrung: Die unersetzliche Rolle von Empathie, Urteilsvermögen und ethischer Reflexion
Die Kunst der Sachverhaltskritik: Erfahrung als „Forensik“
Erfahrung ist in diesem Kontext weit mehr als die reine Ansammlung von Fachwissen.
Sie ist eine analytische Fähigkeit, die es Juristen ermöglicht, Sachverhalte nicht einfach als gegeben hinzunehmen, sondern sie kritisch zu hinterfragen und die „wahre Realität“ hinter den „scheinbaren Sachverhalten“ zu erkennen.
Mandanten präsentieren oft narrative Konstruktionen statt objektiver Tatsachen, sei es bewusst oder unbewusst.
Ein erfahrener Jurist kann diese Erzählungen durchleuchten und versteckte wirtschaftliche, psychologische oder taktische Motive aufdecken.
Diese Fähigkeit, die „Sachverhalte hinter dem Sachverhalt“ zu erkennen, wird zur juristischen „Forensik“.
Anstatt nur normative Regeln anzuwenden, erkennt der Anwalt die eigentliche Ursache eines Konflikts und kann eine Lösung entwerfen, die über das rein Rechtliche hinausgeht.
Empathie als Fundament strategischer Partnerschaft.
Während KI-Systeme riesige Datenmengen verarbeiten und rechtliche Normen anwenden können, sind sie nicht in der Lage, die menschliche Dynamik in Verhandlungen oder die Ängste und Bedürfnisse eines Mandanten zu verstehen.
Hier kommt die Empathie ins Spiel. Sie ist das Fundament, auf dem das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant aufgebaut wird. Durch einen menschenzentrierten Ansatz („human-centered design“) versetzt sich der Anwalt in die Lage des Kunden, um dessen Herausforderungen zu verstehen und die juristische Komplexität in nutzerfreundliche, verständliche und zugängliche Lösungen zu übersetzen.
Dieses „Legal Design Thinking“ ist eine Methode, die Anwälten die Werkzeuge an die Hand gibt, um nicht nur als Regelanwender, sondern als strategischer Partner und „Dirigent“ aufzutreten.
Ein Jurist, der Empathie und strategisches Denken kombiniert, wird zu einem „vertrauenswürdigen Anker“ in einer komplexen Welt. Er wird nicht nur die rechtlichen Probleme lösen, sondern auch als Vermittler die Beziehungen zwischen den Mandanten, der Technik, den Finanzen und der Einhaltung von Vorschriften koordinieren.Dieses Zusammenspiel aus Erfahrung und Empathie befähigt den Anwalt, eine zentrale menschliche Funktion zu erfüllen, die für KI unerreichbar ist.
4. Die Krise der juristischen Ausbildung: Ein System, das der Zukunft nicht gerecht wird
4.1 Eine Bilanz der Defizite: Warum die klassische Ausbildung auf das falsche Ziel hinarbeitet
Das vom Briefing geäußerte Unbehagen, dass „die meisten Juristen“ für die neuen Herausforderungen nicht ausgebildet sind und nicht die entsprechende Erfahrung haben, ist begründet.¹ Die juristische Ausbildung in vielen Ländern ist nach wie vor stark auf die Wissensvermittlung und die Beherrschung der Subsumtion fixiert.¹⁰ Prüfungen und Examina bewerten in erster Linie die Fähigkeit, juristisches Wissen zu reproduzieren und es in einem vorgegebenen Schema anzuwenden.¹⁰ Die „wahre Realität“ komplexer, überfachlicher Probleme wird dabei nur selten abgebildet.
Dieses System produziert Fachexperten, deren Fähigkeiten durch technologische Entwicklungen am schnellsten entwertet werden.¹⁰
4.2 Mangelnde interdisziplinäre Integration
Die isolierte Betrachtung des Rechts in der klassischen juristischen Ausbildung ist ein grundlegendes Problem, das die Juristen für die Anforderungen einer zunehmend komplexen und digitalisierten Welt unzureichend vorbereitet.
Anstatt Problemlöser auszubilden, die in der Lage sind, komplexe Sachverhalte ganzheitlich zu betrachten, produziert das System primär „Fachexperten“. Dieser „fachliche Tunnelblick“ ist ein direktes Resultat der traditionellen Lehrmethoden, die auf dem Ideal der Rechtsdogmatik und der Subsumtion basieren.
Die Ausbildung konzentriert sich darauf, Studierende in der Anwendung juristischer Normen auf gegebene Sachverhalte zu schulen. Dabei spielen andere Disziplinen, wie Wirtschaft, Technologie, Psychologie oder Kommunikation, so gut wie keine Rolle.Obwohl einige Grundlagenfächer wie Rechtsgeschichte oder Rechtsphilosophie existieren, kommt ihnen im klassischen Jurastudium nur geringe Bedeutung zu.
Diese Isolation führt zu einer erheblichen Kompetenzlücke. Moderne juristische Probleme sind selten isoliert, sondern tief in interdisziplinären Kontexten verwurzelt. Ein Jurist muss beispielsweise die ökonomischen Elemente einer Sachlage verstehen, um die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ beurteilen zu können, ein Begriff, der juristisch allein kaum greifbar ist. Die fehlende Integration verhindert, dass Juristen die Fähigkeit entwickeln, strategische, überfachliche Lösungen zu entwerfen, wie sie das Briefing fordert. Sie lernen nicht, wie Technologie, Datenanalyse und Psychologie die rechtliche Arbeit beeinflussen.
Zwar wächst das Bewusstsein für diese Defizite, und die Nachfrage nach interdisziplinären Studiengängen nimmt zu. Beispiele hierfür sind Masterstudiengänge wie „Recht und Informatik“ oder „Medienwissenschaften“, die darauf abzielen, juristische Kenntnisse mit dem Verständnis für technische Konzepte und Methoden zu verknüpfen.
Auch der Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften (BRF) fordert eine stärkere Fokussierung auf interdisziplinäre Aspekte und die Einführung von Grundlagenfächern, um das Studium attraktiver zu gestalten und Studienabbrüche zu vermeiden.
Trotz dieser Entwicklungen bleibt die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der juristischen Forschung und Praxis eine Herausforderung.¹² In rechtswissenschaftlichen Publikationen sind nach wie vor wenige Bezüge zu anderen Wissenschaften zu erkennen.
Die juristische Gemeinschaft, so der Befund, tut sich mit interdisziplinärer Arbeit schwerer als andere Fachbereiche, weil die fachwissenschaftliche Ausdifferenzierung hier sehr stark ausgeprägt ist.
Dies verdeutlicht, dass die Integration interdisziplinärer Kompetenzen eine grundlegende Reform des gesamten Systems erfordert, um die Juristen von „Fachexperten“ zu „Problemlösungs-Architekten“ zu wandeln.
4.3 Die fehlende Förderung von Soft Skills
Die Vernachlässigung von sogenannten Soft Skills in den juristischen Curricula stellt ein erhebliches Defizit dar.¹¹ Fähigkeiten wie Kommunikation, Kreativität, strategisches Denken, Verhandlungsgeschick und empathische Beratung sind für die zukünftige juristische Praxis von entscheidender Bedeutung, werden aber in der Ausbildung nur marginal gefördert.¹¹ Die fehlende Ausbildung in diesen Kernbereichen schafft eine gefährliche Kompetenzlücke zwischen den Anforderungen des zukünftigen Marktes und dem, was die Universitäten liefern.¹¹ Dies bedroht die Zukunftsfähigkeit des gesamten Berufsstandes.¹³
Die traditionelle Ausbildung ist historisch stark auf die Vermittlung von Fachwissen und der Anwendung der Subsumtion fokussiert, um „Fachexperten“ zu produzieren.
In einer zunehmend digitalen und technologiegetriebenen Welt, in der Routineaufgaben wie Vertragsprüfung und Rechtsrecherche von KI-Systemen übernommen werden können, verschiebt sich der Fokus jedoch auf die zwischenmenschlichen Fähigkeiten des Juristen.
Die fehlende Ausbildung in diesen Kernbereichen schafft eine gefährliche Kompetenzlücke zwischen den Anforderungen des zukünftigen Marktes und dem, was die Universitäten liefern.
Diese Lücke bedroht die Zukunftsfähigkeit des gesamten Berufsstandes.
Warum Soft Skills im KI-Zeitalter unverzichtbar sind:
• Der Jurist als Vermittler und Stratege: In einer Welt, in der KI komplexe juristische Texte verarbeiten und standardisierte Schriftsätze erstellen kann, muss der Jurist seine Rolle neu definieren.
• Anstatt nur Regeln anzuwenden, wird er zum „Vermittler“, der juristische Komplexität in einfache und klare Lösungen übersetzt. Dazu gehören auch strategische und kreative Fähigkeiten, um überfachliche Sachverhalte zu lösen, die über die reine Rechtsdogmatik hinausgehen.
• Empathie und „Legal Design Thinking“: Während KI Daten analysiert, kann sie keine Empathie für die Ängste und Bedürfnisse von Mandanten entwickeln. Empathie ist jedoch der Schlüssel, um Vertrauen aufzubauen und die wahren, oft nicht ausgesprochenen Probleme hinter den rein juristischen Fragestellungen zu erkennen.
• Der Ansatz des „Legal Design Thinking“ verlagert den Fokus auf den Menschen und befähigt Juristen, Dienstleistungen zu entwickeln, die nutzerfreundlich, verständlich und zugänglich sind.Es geht darum, Lösungen zu schaffen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen, nicht die juristische Norm.
• Resilienz und Führungsqualitäten: Die rasante Geschwindigkeit des technologischen Wandels und die stetige Veränderung des juristischen Arbeitsumfelds erfordern von Juristen eine hohe Resilienz und Flexibilität.
• Die klassische, lange Ausbildung, die wenig Raum für persönliche Reflexion lässt, muss daher durch Angebote ergänzt werden, die Juristen in der Entwicklung dieser Fähigkeiten unterstützen.
• Zudem sind Führungsqualitäten unerlässlich, um in dynamischen, hybriden Arbeitswelten Teams zu leiten und unterschiedliche Generationen erfolgreich zu integrieren.
• Juristische Verbände wie die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und der Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften (BRF) haben diese Defizite erkannt und fordern eine dringende Reform der Ausbildung.
Die Integration von Modulen wie „Legal Design Thinking“, „Agiles Projektmanagement“ und „Kommunikation in einer digitalen Welt“ ist entscheidend, um die Kompetenzlücke zu schließen und den Juristen auf seine zukünftige Rolle als strategischer und empathischer Berater vorzubereiten. Nur so kann der Berufsstand seine entscheidende Rolle in der digitalen Gesellschaft behaupten und eine neue, wertvollere Ära seiner Existenz einläuten.
5. Wege in die Zukunft: Empfehlungen für juristische Praxis und Lehre
5.1 Eine Reform des Rechtsstudiums: Curriculare Vorschläge
Um die Krise der juristischen Ausbildung zu überwinden, ist eine grundlegende Reform der Curricula unumgänglich.¹³ Dazu gehört die Integration von Pflichtmodulen zu KI und Digitalrecht, Wirtschaftsrecht, Finanztechnologie sowie Kommunikations- und Verhandlungsführung.¹⁴ Darüber hinaus sollten praxisorientierte Lehrmethoden wie „Problem-Based Learning“ etabliert werden.¹⁵ Solche Module würden komplexe, interdisziplinäre Fallbeispiele simulieren und die Studierenden dazu anleiten, nicht nur das Recht, sondern auch die zugrundeliegenden wirtschaftlichen, psychologischen und technologischen Aspekte zu berücksichtigen. Die Förderung von Kooperationen mit anderen Fakultäten (z. B. Informatik, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie) könnte den geforderten interdisziplinären Ansatz institutionell verankern.¹²
Zusätzlich zum traditionellen juristischen Ausbildungspfad (Studium, Erste Prüfung, Referendariat, Zweite Prüfung) empfiehlt sich ein „dritter Strang“ innerhalb von Kanzleien.
Dieser berufsbegleitende 12-Monats-Lehrplan könnte folgende Module beinhalten:
• Quartal 1: Grundlagen und Sicherheit im KI-Umfeld
Dieser Teil der Ausbildung konzentriert sich auf den sicheren und verantwortungsvollen Einsatz neuer Technologien.
Er umfasst die Vertiefung von „Legal Safety by Design“, also dem Prinzip, Compliance- und Sicherheitsanforderungen von Beginn an in juristische Prozesse zu integrieren.
Die Teilnehmenden lernen zudem, wie KI gemäß dem Leitfaden der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) ⁸ korrekt genutzt wird.
Durch sogenannte „Red-Team-Übungen“ – also simulierte Angriffsszenarien – trainieren sie die Abwehr von typischen KI-Risiken wie „Halluzinationen“ (wenn die KI falsche Informationen erzeugt) und „Prompt-Injektionen“ (eine Technik, um die KI zu manipulieren).⁸
• Quartal 2: Strategie und Verhandlungspraxis
Hier steht die Entwicklung von Fähigkeiten für komplexe Vertragsverhandlungen und Problemlösungen im Vordergrund.
Die Ausbildung beinhaltet das Einüben des „ORCHESTRA-Loops“, eines strategischen Rahmens zur Bearbeitung von Fällen.
Dabei geht es um das „Observieren“ der Ausgangssituation, das „Reframen“ des eigentlichen Problems, die Berücksichtigung von „Kontext und Constraints“ (Randbedingungen), das Aufstellen von „Hypothesen“ und das Durchführen von „Experimenten“, um die Lösungen zu „testen“.
Anschließend werden „Risiken und regulatorische Aspekte“ geprüft und die Strategie „aktualisiert“.
Weitere Schwerpunkte sind das „Options-Engineering“ (die Entwicklung mehrerer Lösungswege) und die Verhandlungstaktik.
• Quartal 3: Rechtsdienstleistungen als Produkt
Dieses Modul befasst sich mit der Transformation der Rechtsberatung von einer reinen Dienstleistung zu einem standardisierten Produkt.
Es geht um die Entwicklung von Beratungsprodukten mit klaren Inputs und Outputs, ähnlich dem „ESG-Readiness Sprint“.¹⁷ Auch die Festlegung von Service Level Agreements (SLAs) – also verbindlichen Vereinbarungen über Leistungsqualität und Reaktionszeiten – sowie die Definition von Key Performance Indicators (KPIs) zur internen Erfolgsmessung werden behandelt.
• Quartal 4: Spezialisierung in der Praxis
Im letzten Quartal können die Teilnehmenden eine Spezialisierung in einem spezifischen Bereich vertiefen, wie M&A-Transaktionen, ESG-Compliance oder allgemeines Vertragsrecht.
Die Prüfungsformate sollten praxisnah gestaltet sein, beispielsweise durch Live-Mandatssimulationen oder die Erstellung von Risiko-Memoranden, um die erworbenen Fähigkeiten direkt in der Anwendung zu testen.
5.2 Die Transformation der Kanzlei: Strategien für neue Geschäftsmodelle
Auch die juristische Praxis muss sich grundlegend wandeln. Kanzleien sind gefordert, neue Rollen zu schaffen, die über den klassischen Anwalt hinausgehen, wie etwa „Legal Technologist“ oder „Legal Data Analyst“.⁹ Eine gezielte Investition in die Weiterbildung der erfahrenen Juristen ist unerlässlich, um die „alten“ Juristen für die neuen Herausforderungen zu rüsten.¹¹ Darüber hinaus müssen Kanzleien die Umstellung der Vergütungsmodelle auf ergebnisorientierte Ansätze, wie Pauschalhonorare für komplexe Projekte oder eine Erfolgsbeteiligung, vorantreiben.¹
Um die Beratung messbar zu machen, können Kanzleien einen Produktkatalog erstellen (z.B. „Complex-Deal Pathfinder“ für M&A-Transaktionen oder „Contract Portfolio Triage“) und Leistungskennzahlen (KPIs) wie „Time-to-Insight“ oder „Streitvermeidungsquote“ einführen.
5.3 Das Konzept des „Hybrid-Juristen“: Ein Ausblick auf ein neues Berufsbild
Die genannten Entwicklungen münden in einem neuen Berufsbild: dem „Hybrid-Juristen.“¹ Dieses Profil beschreibt eine Person, die nicht nur das Recht meisterhaft beherrscht, sondern es auch strategisch im breiteren Kontext von Technologie, Wirtschaft und Psychologie anwenden kann.¹ Der Hybrid-Jurist wird zum „zentralen Berater,“ der komplexe Situationen mit einem ganzheitlichen Ansatz löst und damit einen unersetzlichen Wert schafft, der über die reine Regelanwendung hinausgeht.¹
6. Domänen-Vertiefung: Rechtliche Praxis in der Ära der KI
6.1 M&A-Transaktionen
Der Einsatz von KI in M&A-Transaktionen ist bereits gängige Praxis, insbesondere bei der Due Diligence.
KI-Tools können umfangreiche Dokumente in kurzer Zeit analysieren, was die Effizienz und Genauigkeit steigert.⁵ Neue rechtliche Fragestellungen entstehen jedoch in Bezug auf die Übernahme von Zielunternehmen, die KI-Systeme nutzen.¹⁰ Käufer werden zunehmend Garantien verlangen, dass die KI entweder eigenentwickelt oder rechtmäßig lizenziert wurde.¹⁰ Es muss geprüft werden, ob Trainingsdaten Bias aufweisen oder unautorisiert genutzt wurden.¹⁰ Zudem verschieben sich Haftungsfragen, beispielsweise wer für ein mit KI generiertes fehlerhaftes Produkt haftet.¹⁰
6.2 ESG-Compliance
ESG-Compliance (Environmental, Social, Governance) stellt ein weiteres komplexes Feld dar, in dem Juristen als strategische Orchestratoren agieren müssen.
Sie beraten Unternehmen bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Einhaltung von ESG-Vorschriften und der Offenlegung von Informationen gegenüber Aufsichtsbehörden und Investoren.¹⁷ Die Herausforderung liegt in der Vielschichtigkeit der sich wandelnden rechtlichen Rahmenbedingungen und dem Druck von Stakeholdern.¹⁷ Hier sind Juristen gefordert, einen doppelten Blick auf die „Wesentlichkeit“ zu werfen: einerseits auf die finanziellen Auswirkungen von ESG-Risiken, andererseits auf die Auswirkungen des Unternehmens auf Umwelt und Gesellschaft.¹⁷
7. Governance & Compliance: Die rechtlichen Leitplanken des KI-Einsatzes
Der Einsatz von KI erfordert eine strikte Beachtung rechtlicher Rahmenbedingungen, insbesondere in Bezug auf Berufsrecht, Datenschutz und die neue EU-KI-Verordnung.
• Berufsrechtliche Pflichten: Die Eigenverantwortung und Verschwiegenheitspflicht des Anwalts sind unverzichtbar und können nicht an eine KI delegiert werden.⁸ Der Einsatz von KI-Tools darf lediglich unterstützend wirken, die endgültige Überprüfung und Haftung verbleibt beim Juristen.⁸ Die Verarbeitung sensibler Mandatsdaten darf nur in kontrollierten Umgebungen stattfinden, um den Geheimnisschutz (§ 203 StGB) zu gewährleisten.⁸
• Datenschutz (DSGVO): Beim Einsatz von KI müssen die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, Zweckbindung und Datenminimierung (Art. 5 DSGVO) beachtet werden.¹⁸ Zudem ist die Sicherheit der Verarbeitung nach dem Stand der Technik zu gewährleisten (Art. 32 DSGVO).¹⁸
• EU-KI-Verordnung (AI-Act): Der risikobasierte Ansatz der Verordnung teilt KI-Systeme in Risikoklassen ein.¹⁹ Kanzleien müssen ihre KI-Anwendungen prüfen und sicherstellen, dass sie nicht als „hochriskant“ eingestuft werden.²⁰ Ab 2025 müssen Anbieter und Anwender zudem über ein ausreichendes KI-Verständnis verfügen („AI-Literacy“), und ab 2026 greifen Transparenzpflichten, etwa die Kennzeichnung von KI-generierten Texten in Veröffentlichungen von öffentlichem Interesse.²⁰ Bei Verstößen drohen empfindliche Bußgelder von bis zu 35 Millionen Euro oder 7 % des Jahresumsatzes.²¹
8. Ausblick: Eine Renaissance der juristischen Profession
8.1 Der Jurist als zentraler Berater in der Digitalen Gesellschaft
Die technologische Disruption durch KI bedeutet nicht das Ende des Juristen, sondern eine Renaissance seiner eigentlichen Kernaufgabe.¹¹ Sie zwingt den Berufsstand dazu, sich von routinemäßigen, automatisierten Aufgaben zu lösen und sich auf seine ureigenen menschlichen Fähigkeiten zu besinnen: die kritische Analyse, das strategische Denken, die kreative Problemlösung und die empathische Beratung.¹ Der Jurist wird damit zum zentralen Berater und Gestalter von Lösungen in einer zunehmend komplexen und digitalisierten Welt.¹
8.2 Schlussfolgerung: Kernbotschaften und ein Aufruf zum Wandel
Die Subsumtion, einst das Fundament juristischer Wertschöpfung, wird durch KI zu einer impliziten Nebenleistung.¹ Der Wert des Juristen verlagert sich auf die menschlichen Kernkompetenzen, die KI nicht replizieren kann: die Fähigkeit, Sachverhalte zu hinterfragen, rechtliche Lösungen interdisziplinär zu orchestrieren und strategisch zu navigieren.¹ Die juristische Ausbildung, die diese Fähigkeiten bisher sträflich vernachlässigt hat, muss sich grundlegend reformieren, um nicht irrelevant zu werden.¹ Es ist ein dringender Aufruf an die juristische Gemeinschaft, den Wandel aktiv zu gestalten, statt sich ihm nur passiv hinzugeben.¹³ Nur so kann der Berufsstand seine entscheidende Rolle als vertrauenswürdiger Anker und Gestalter in der digitalen Gesellschaft behaupten und eine neue, wertvollere Ära seiner Existenz einläuten.
Fußnoten
¹ Die_klassische_juristische_Ausbildung.pdf. Unveröffentlichtes Manuskript, im Besitz des Autors / Internes Themenpapier August 2025, Prof. Dr. Christoph Ph. Schließmann
² Legal Tech – Automatisierung juristischer Tätigkeiten | bidt, Zugriff am August 30, 2025, https://www.bidt.digital/phaenomene/legal-tech-automatisierung-juristischer-taetigkeiten/.
³ Wie Legal Tech die Arbeit von Juristen verändert – Beck Stellenmarkt, Zugriff am August 30, 2025, https://www.beck-stellenmarkt.de/ratgeber/karriere/ratgeber-karriere/wie-legal-tech-die-arbeit-von-juristen.
⁴ Vom Wandel profitieren: Legal Tech Kompetenzen als Schlüssel zum Erfolg im technologisierten Rechtsmarkt – Beck Stellenmarkt, Zugriff am August 30, 2025, https://www.beck-stellenmarkt.de/ratgeber/legal-career/ratgeber-karriere/vom-wandel-profitieren-legal-tech-kompetenzen.
⁵ Using Artificial Intelligence in Due Diligence for M&A Transactions – Gallagher & Kennedy, Zugriff am August 30, 2025, https://gknet.com/news/publications/using-artificial-intelligence-in-due-diligence-for-ma-transactions/.
⁶ Forschung zu den Metaphern des Anwalts als Architekt: Metaphor of the Lawyer as an Architect and the Concept of Law, ResearchGate, Zugriff am 30. August 2025, https://www.researchgate.net/publication/358404373_Metaphor_of_the_Lawyer_as_an_Architect_and_the_Concept_of_Law; Legal Evolution – Bricklayers and Architects, Zugriff am 30. August 2025, https://www.legalevolution.org/2019/01/bricklayers-architects-080/.
⁷ The Architect Responsibilities and Disputes | Stimmel Law, Zugriff am August 30, 2025, https://www.stimmel-law.com/en/articles/architect-responsibilities-and-disputes.
⁸ KI in der Kanzlei – BRAK gibt Leitfaden als Orientierungshilfe – datenschutzticker.de, Zugriff am August 30, 2025, http://datenschutzticker.de/2025/03/ki-in-der-kanzlei-brak-gibt-leitfaden-als-orientierungshilfe/.
⁹ Die Entstehung neuer Berufsfelder im Rechtsmarkt: Emerging Areas of Law, Clio, Zugriff am 30. August 2025, https://www.clio.com/blog/emerging-areas-law/; Legal Data Analyst Jobs (NOW HIRING), ZipRecruiter, Zugriff am 30. August 2025, https://www.ziprecruiter.com/Jobs/Legal-Data-Analyst#:~:text=A%20Legal%20Data%20Analyst%20is,government%20agencies%20in%20decision%2Dmaking; Legal Data Analyst, Multiplymii, Zugriff am 30. August 2025, https://www.multiplymii.com/job-description/legal-data-analyst; Mit Legal Tech durchstarten: Welche neuen Berufsbilder der Rechtsmarkt zu bieten hat, Beck Online, Zugriff am 30. August 2025, https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/legal-tech-neue-berufsbilder-rechtsmarkt.
¹⁰ KI beim Zielunternehmen in M&A-Transaktionen – Taylor Wessing, Zugriff am August 30, 2025, https://www.taylorwessing.com/de/insights-and-events/insights/2024/07/ki-beim-zielunternehmen-in-m-und-a-transaktionen.
¹¹ Future Skills – wie neue Skills den Rechtsmarkt pushen – Beck Stellenmarkt, Zugriff am August 30, 2025, https://www.beck-stellenmarkt.de/ratgeber/legal-career/ratgeber-karriere/future-skills-wie-neue-skills-den-rechtsmarkt-pushen.
¹² Interdisziplinarität – eine Bereicherung für das Jurastudium? – mkg-jura-studis.de, Zugriff am August 30, 2025, https://mkg-jura-studis.de/interdisziplinaritaet-im-jurastudium/.
¹³ Demographischer Wandel, Digitalisierung und Diversität: Juristische Ausbildung zukunftsfähig machen | Bundesrechtsanwaltskammer, Zugriff am August 30, 2025, https://www.brak.de/presse/gemeinsame-presseerklaerung-brak-brf-dav-nrv-juristische-ausbildung-zukunftsfaehig-machen/.
¹⁴ Welche Anforderungen stellt die Digitalisierung an die juristischen Berufe und was folgt hieraus für die juristische Ausbildung – Justiz NRW, Zugriff am August 30, 2025, https://www.justiz.nrw/sites/default/files/imported/files/2022-01/Stellungnahme-Elmar-Streyl.pdf.
¹⁵ Legal Design Thinking | CEU UCH, Zugriff am August 30, 2025, https://www.uchceu.com/en/research/legal-design-thinking.
¹⁶ CAS Legal Tech HWZ – Digitale Transformation der Rechtsbranche – HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich, Zugriff am August 30, 2025, https://fh-hwz.ch/bildungsangebot/weiterbildung/cas-das/cas-legal-tech-hwz.
¹⁷ ESG Law Firm | Skadden, Arps, Slate, Meagher & Flom LLP, Zugriff am August 30, 2025, https://www.skadden.com/capabilities/practices/environmental-social-and-governance/cc/environmental-social-and-governance.
¹⁸ Rechtliche Vorgaben für den KI-Einsatz: Wie Kanzleien sicher mit Mandanten kommunizieren, Wolters Kluwer, Zugriff am 30. August 2025, https://www.wolterskluwer.com/de-de/expert-insights/wie-kanzleien-sicher-mit-mandanten-kommunizieren-dsgvokonform-und-schnell-daten-austauschen; DSGVO Artikel 32 – Sicherheit der Verarbeitung, activeMind.legal, Zugriff am 30. August 2025, https://www.activemind.legal/de/gesetze/dsgvo/artikel-32/.
¹⁹ EU AI Act – Überblick – ki-kanzlei.de, Zugriff am August 30, 2025, https://ki-kanzlei.de/eu-ai-act-ueberblick.
²⁰ EU AI Act: Was Kanzleien als Anwender von KI bis 2025/26 beachten sollten – und warum der JURA KI Assistent ein Compliance Plus ist – News – RA-MICRO, Zugriff am August 30, 2025, https://www.ra-micro.de/artikel/news/eu-ai-act-was-kanzleien-als-anwender-von-ki-bis-2025-26-beachten-sollten-und-warum-der-jura-ki-assistent-ein-compliance-plus-ist.html.
²¹ Haftungsrisiken durch den EU AI Act – TÜV Rheinland Consulting, Zugriff am August 30, 2025, https://consulting.tuv.com/aktuelles/ki-im-fokus/haftungsrisiken-durch-den-eu-ai-act.