„Von 1 auf 100 Mio. in 8 Monaten“? Warum diese KI-Propaganda brandgefährlich ist

Heute kursierte auf LinkedIn ein Beitrag, der mit dem Versprechen „Von 1 auf 100 Mio. EUR Umsatz in 8 Monaten“ und einem „AI-Playbook“ für Führungskräfte Aufmerksamkeit generiert. Das Narrativ: Kein Tech-Wissen nötig, nur „Leadership neu denken“, 90-Tage-Blueprint genügt. Dieser Artikel ordnet die Behauptungen fachlich ein und zeigt, warum solche Heilsversprechen strategisch riskant sind und Unternehmen in die Komplexitätsfalle führen können.


1) Der Kernirrtum: Umsatzfetisch statt Systemlogik

Ein Umsatzsprung ist kein Beweis für strategische Qualität. Entscheidend ist die Lebensfähigkeit eines Unternehmens im relevanten System: Sie ergibt sich aus der Relation von Komplexität zu Agilität × Robustheit. Steigt die Komplexität schneller als die organisationale Agilität und Robustheit, wächst die Fragilität – unabhängig von kurzfristigen Umsätzen. Genau diese physikalische „Systemarithmetik“ blendet das Post-Narrativ aus.


2) Falscher Startpunkt: Branchenfloskeln statt SRM & Originäre Kundenbedürfnisse

Die Verheißung „KI skaliert alles“ verkennt, dass Strategie nicht in „Branchen“, sondern im Strategisch Relevanten Markt (SRM) beginnt – dort, wo originäre Kundenbedürfnisse und substitutive Lösungen (auch aus fremden Technologiefeldern) real konkurrieren. Wer ohne SRM-Präzisierung „exponentielles Wachstum“ verspricht, operiert am systemischen Spielfeld vorbei – und übersieht die echten Angriffsflächen (Substitute, neue Spielregeln, Aufmerksamkeitsökonomie).


3) Plug-&-Play-Mythen in komplexen Systemen

Komplexe Systeme sind nicht linear planbar und liefern keine deterministischen Outputkurven. Standard-Blueprints erzeugen Scheingenauigkeit und verhindern das erforderliche evolutive Vorgehen (Hypothesen, Szenarien, Korrekturschleifen). Bereits die klassische Kritik an „Plug-&-Play-Tools“ zeigt: vermeintliche Abkürzungen verdrängen Prämissen, reduzieren Kontext – und erhöhen Systemrisiken.

Strategie ist in dynamischen Umwelten ein „wicked problem“: offen, nicht standardisierbar, nicht endgültig lösbar; jede „Lösung“ verändert Systemzustände und schafft neue Probleme. Kopieren funktioniert nur scheinbar; konkrete Strategien sind situativ einmalig.


4) Der Reality-Check

Eine seriöse Einordnung verlangt mindestens drei orthogonale Perspektiven:

  1. Relative Stärke im relevanten Markt,
  2. Profitabilität im relevanten Markt,
  3. Viabilität im relevanten System.

Erst die Kombination dieser Achsen – der Schließmann-Strategie-Würfel – zeigt, ob „Wachstum“ strategisch gesund ist oder nur ein kosmetischer Peak mit nachfolgender Erosion. Das beworbene Playbook ignoriert diese Mehrdimensionalität.


5) Governance der Unsicherheit: Von Intuition und Vernunft

Wirksame Führung in komplexen Systemen integriert intuitive Heuristiken (erfahrungsbasiertes, schnelles Urteil) und rationale Reflexion, schafft kulturelle wie strukturelle Voraussetzungen für Iteration, Improvisation und Kurskorrektur – statt aktionistischer Roadmaps. Genau diese Kompetenz zur Komplexitätsbewältigung (nicht „mehr Tools“) ist Kern moderner Leadership-Arbeit. „Kein Tech-Wissen nötig“ ist nicht mutig, sondern fahrlässig.


6) Methodische Mindeststandards – was jede „KI-Wachstums-Story“ liefern müsste

Ohne diese Prüfsteine ist jede Hockeystick-Story Spekulation:

  • SRM-Schärfung (OKB-Logik): Originäre Kundenbedürfnisse, substitutive Lösungsräume, Aufmerksamkeitskonkurrenz, mediale Spielregeln – jenseits enger Branchenetiketten.
  • Viabilitätsmessung: Systemische Interdependenzen, Hubs, Entropie; explizite Komplexitätstreiber und deren Entwicklung über die Zeit.
  • Agilität × Robustheit: Entscheid- und Lieferfähigkeit (strategisch/operativ/Portfolio) vs. Absorptionsfähigkeit (Liquidität, Redundanzen, Governance, Netzwerke) – balanciert, nicht einseitig agil.
  • Geschäftsmodell-Kohärenz: Konsistenz von Value Proposition, Wertschöpfungsarchitektur, Ertragsmechanik; iterative Validierung statt „Masterplan“.
  • Strategie-Radar: Regelmäßige Scans und Szenarien statt ritualisierter Mehrjahrespläne; Strategie als laufende Schicksalsbestimmung, nicht als einmalige Folie.
  • Beleglogik: Harte Evidenz (Unit Economics, Kapitaleinsatz, regulatorische Pfade, Datenzugang, Moats) statt Anekdoten.

Werkzeuge:

  • Vester-Ansatz (analoge Systemstrukturierung, Rollen der Variablen, Sensitivitäten).
  • OntoSpace/Komplexitätsanalyse (modellfrei, dynamisch, inkl. Fuzzylogik) zur Aufdeckung versteckter Interdependenzen und kritischer Komplexitätsbeiträge.
  • Fallstudien-Vorgehen zur systemischen Genetik und Lebensfähigkeitsarbeit (z. B. EBT-Case).

7) Warum die behauptete „KI-Abkürzung“ typischerweise scheitert

  • Komplexitätssprung ohne Gegengewicht: Mehr Produkt-/Channel-/Partnerschafts-Varietät bei unveränderter Organisation → Fragilität steigt.
  • Scheinmärkte statt Nutzenintensität: Ohne echten Nutzenkern müssen Absatz und „Skalierung“ durch Vermarktungsaggression erzwungen werden – kurzlebig und teuer.
  • Kopierlogik verkennt Situativität: Was einmal in einem Systemzustand funktionierte, ist nicht reproduzierbar; die Umsetzung selbst ändert das System.
  • Planungsillusion: Quantifizierte Roadmaps in komplexen Umwelten ersetzen keine Regelkreise und balancierenden Feedback-Mechanismen – sie verschleiern sie.

8) Was verantwortliche Führungskräfte stattdessen tun

  1. Explizit SRM definieren, Alternativen kartieren, vor Technologie entscheiden.
  2. Lebensfähigkeit messen: Interdependenzen, Entropie, kritische Hubs; Grenzbereiche der Komplexität identifizieren.
  3. Agilität × Robustheit parallel ausbauen (Portfolio-Umschichtung, Reserven, Liefer- und Dateninfrastruktur, Entscheidpfade).
  4. Geschäftsmodell iterativ validieren (Ertragsmechanik, Cash-Zyklen, Skalierungsengpässe); Radar-Scans institutionalisieren.
  5. Leadership professionalisieren: Intuition systematisch trainieren; Lernräume schaffen; Fehler als Datenpunkte nutzen – statt Blaupausen zu verkünden.

Schlussfolgerung

Das heute verbreitete „1→100 Mio. in 8 Monaten“-Narrativ ist kommunikativ effektiv, aber systemisch naiv. Es verführt Entscheider, Umsatzspitzen mit Zukunftsfähigkeit zu verwechseln – und unterminiert genau jene Führungsaufgabe, die in komplexen Umwelten zählt: Lebensfähigkeit herstellen und halten.

Wer Verantwortung trägt, lässt sich nicht von Click-Claims leiten, sondern von SRM-Schärfe, Viabilitätsdiagnostik, Geschäftsmodell-Kohärenz und strategischer Disziplin – belegt mit robusten Methoden statt mit Euphorie.